NSU-Untersuchungsausschüsse

Am 28.10.20 sollte eigentlich im Rahmen des OACB eine Veranstaltung zu den NSU-Untersuchungsausschüssen stattfinden.
Da wir den Termin -aus gegebenem, pandemischen Anlass- canceln mussten, ein bisschen Weiterbildung auf diesem Wege:

NSU Untersuchungsausschüsse

Auch 9 Jahre nach der Selbstenttarnung des NSU und mehr als 2 Jahre nach Ende des 1. NSU-Prozesses bestehen mehr Fragen als Antworten über mögliche Netzwerke im In- und Ausland sowie die Verstrickung von Ermittlungsbehörden (insbesondere Verfassungsschutz), die Rolle von V-Leuten sowie fehlerhafte und Aufklärung verhindernde Ermittlungsarbeit. Auch unter dem Aspekt immer wieder hinzukommender Erkenntnisse rechtsterroristischer Netzwerke ist eine weitere Aufarbeitung der rechtsterroristischen Mordserie weiter zwingend erforderlich. So ist aktuell noch ein parlamentarischer Untersuchungsausschuss (=PAU) des Landes Mecklenburg-Vorpommern laufend und der Abschlussbericht im kommenden Jahr zu erwarten.

Aufgrund der Wichtigkeit dieses Themas folgt hier eine Kurzzusammenfassung der bisherigen Untersuchungsausschüsse. Unser Dank gilt hier den Antifaschist*innen, insbesondere von NSU-Watch, und kritischen Journalist*innen, die diese Untersuchungsausschüsse über Jahre hinweg kritisch begleitet haben.

Nach der Selbstenttarnung des NSU im November 2011 wurde nicht nur klar, dass eine mörderische neonazistische Bande über mind. 7 Jahre ungestört Morde, Sprengstoffanschläge und Raubüberfälle begehen konnte, sondern auch, dass die Ermittlungsorgane über Jahre hinweg versagt hatten.

Ende November 2011 entschuldigten sich alle Bundestagsfraktionen des damaligen Bundestages (die AFD war noch nicht eingezogen) in einer gemeinsamen Erklärung bei den Opferangehörigen für jahrelange Versäumnisse und Pannen in der Ermittlungsarbeit. Nach wochenlangen Konflikten um die richtige Methodik wurde am 13. Januar 2012, eine elfköpfige Kommission unter dem Vorsitz des SPD-Bundestagsabgeordneten Edathy eingesetzt, die diese Fehler und Versäumnisse rasch, umfassend und gründlich politisch aufarbeiten sollte. Bundeskanzlerin Angela Merkel versprach den Hinterbliebenen im Februar 2012 lückenlose Aufklärung.

Der mehr als 1000 seitige Abschlussbericht des 1. Untersuchungsausschuss des Bundestags fand im August 2012 deutliche Worte für jahrelanges behördliches Versagen, kritisierte insbesondere den Verfassungsschutz und sämtliche Innenminister sowohl des Bundes (damals Otto Schily) als auch der betroffenen Länder, namentlich hervorgehoben Volker Bouffier (Hessen), Fritz Behrens (NRW) und Günther Beckstein (Bayern). Es wurden strukturelle Probleme in der Ermittlungsarbeit, wie tendenziöse Ermittlung und Bagatellisieren von Rechtsterrorismus, aufgezeigt – einen strukturellen oder institutionellen Rassismus wollte der Ermittlungsausschuss jedoch ausdrücklich – und auch auf kritische Nachfrage – nicht erkennen. Sebastian Edathy betonte, es gäbe keine Hinweise für eine absichtliche Behinderung der Aufklärung oder gar aktive Unterstützung rechter Netzwerke durch die Sicherheitsbehörden. Es wurde ein umfangreiches Paket für Reformen der Ermittlungsbehörden, Begrenzung des Einsatzes von V-Leuten und bessere Präventivarbeit vorgestellt, dies alles unter dem Druck der nahenden Bundestagswahlen 2013 und damit neuer Zusammensetzung des Bundestages. Da lediglich ein kleiner Teil der Geschehnisse beleuchtet wurde war allen Beteiligten klar, dass weitere ungeklärte Verbrechen in Hinblick auf eine mögliche Tatbeteiligung des NSU, die Aufdeckung und Zerschlagung rechter Netzwerke in Deutschland und deren Verbindung ins Ausland sowie die Rolle der V-Leute unzureichend bearbeitet wurden. Die Forderungen von Linke und Grüne, den Verfassungsschutz aufzulösen wurde nicht aufgegriffen.

Nachdem in den darauf folgenden Jahren Untersuchungen des Bundesinnenausschuss durch Ermittlungsbehörden blockiert wurden, Erkenntnisse und Vorschläge des ersten PAU in die Bedeutungslosigkeit abzudriften drohten, sowie vor dem Aspekt neuer Erkenntnisse, u.a. durch die Untersuchungsausschüsse der Länder wurde 2015 der 2. PAU des Bundestages eingesetzt. Das öffentliche und politische Interesse am 2. Bundestags-Untersuchungsausschuss es (Oktober 2015 bis März 2017) schien deutlich abgeflacht. Schwerpunkte der Arbeit war die skandalöse Ermittlungsarbeit, die Rolle der V-Personen und örtliche Unterstützungsnetzwerke. Die „Trio-Theorie“, an der die Bundesstaatsanwaltschaft im laufenden Prozess festhielt war nach Ansicht des PAU nicht haltbar. Erneut wurde die Blockadehaltung insbesondere des Verfassungsschutzes, des Landeskriminalamtes sowie der Bundesstaatsanwaltschaft scharf kritisiert. Der Vorsitzende des 2. NSU Untersuchungsausschusses Clemens Binninger (CDU), gab selbstkritisch zu, dass weiterhin drängende Fragen offen bleiben mussten.

Noch während des PAU des Bundestages wurde in Thüringen der 1. Untersuchungsausschuss eingesetzt, es folgten weitere Länder-Untersuchungsausschüsse (siehe auch Zeitleiste, Quelle Wikipedia).

Thüringen I und II
Sachsen I und II
Bayern
Hessen
Baden-Würtemberg
Nordrhein-Westfalen
Brandenburg
Mecklenburg-Vorpommern (noch laufend)

Diese Untersuchungsausschüsse wurden mit unterschiedlicher Sorgfalt und Ernsthaftigkeit vorangetrieben. Während beispielsweise in Thüringen ein ernsthafter Aufklärungswille zu erkennen war, war der Untersuchungsausschuss in Hessen erst gegen die blockierende Haltung der damaligen Regierungsparteien (CDU und Grüne) eingesetzt und fiel dementsprechend durch undemokratische Diskussionsstrukturen, mangelnde kritische Befragung von Zeug*innen aus den Ermittlungsbehörden und konsequentes Ausblenden von institutionellem Rassismus auf. In Bayern war man 2013 recht schnell fertig, viele Fragen blieben offen. Manch einer tat, als wäre der NSU ein rein thüringisches Problem. Trotz vieler neuer Erkenntnisse und Forderungen aus der Zivilgesellschaft nach einem 2. PAU in Bayern, ist hier im Moment kein politisches Aufklärungsinteresse zu erkennen.
Derzeit laufend ist der PAU in Mecklenburg-Vorpommern. Trotz aller vorangegangenen Untersuchungen, Kritik und Maßnahmenpakete des Bundes-Untersuchungsausschuss zeigen sich hier die vernommenen Zeug*innen aus Polizei, Verfassungsschutz etc. Wenig einsichtig. Manch ein*e Ermittler*in betonte gar, sie würden wieder genauso handeln und müssten sich „für gar nichts entschuldigen“. Unbelegte rassistische Anschuldigungen und Unterstellungen gegen Opfer und ihre Familien werden teilweise wiederholt und von Seiten des Ausschusses recht unkritisch hingenommen.

Alle PAU beklagen den mangelnden Aufklärungswillen, systematische Vertuschung bis hin zur Beweisvernichtung der Ermittlungsbehörden, so dass am Ende viele drängende Fragen nicht beantwortet werden können.

Bzgl. Der genauen Aufarbeitung und Bewertung einzelner Untersuchungsausschüsse dürfen wir auf die Arbeit und Berichte von NSU Watch verweisen, die hier viele Jahre großartige Arbeit leisten ( https://www.nsu-watch.info/category/untersuchungsausschuesse/ ).

Ausschlussreich ist auch, welche Bundesländer fehlen:

Hamburg:
Obwohl in Hamburg 2001 Süleyman Tasköprü ermordet wurde und die „Initiative für die Aufklärung des Mordes an Süleyman Tasköprü“ sowie die Linken einen Untersuchungsausschuss fordern, sehen die anderen Parteien dafür keine Notwendigkeit.

Berlin
Trotz eklatanter Ermittlungsfehler in Berlin und Umland, Vernetzung von Neonazistrukturen und V-Leuten bis nach Berlin wurde bislang kein Untersuchungsausschuss in Berlin eingesetzt. Politisches Bestreben ist hier trotz der aktuellen Erkenntnisse zur NSU 2.0 nicht zu erkennen. Eine Internet-Petition des Berliner VVN-BdA zur Einsetzung eines Berliner Untersuchungsausschusses konnte nur wenig Unterschriften sammeln.

Sachsen-Anhalt
Die Landesregierung von Sachsen-Anhalt betonte mehrfach, es lägen keine Informationen zu Verstrickungen des NSU nach Sachsen-Anhalt vor und sah deshalb keine Notwendigkeit eines PAU. Dennoch wurde im Zuge der Emittlungen ein MAD-Dossier zu Uwe Mundlos und 5 weiteren Personen aus dem NSU Umfeld gefunden, dass wegen einer „Akten-Panne“ bei den NSU-Ermittlungen nicht zur Verfügung stand. Dies führte im weiteren Verlauf zum Rücktritt des Verfassungsschutz-Präsidenten von Sachsen-Anhalt.

Schleswig-Holstein:
Obwohl nach aktuellen Erkenntnissen der NSU in Schleswig- Holstein keine Morde, Raubüberfälle oder sonstige Straftaten beging, gilt die Küstenregion und ihre Inseln (z.B. Fehmarn) als wichtiger Rückzugsort von B. Tschäpe, U. Mundlos und U. Böhnhardt, sowie diversen Neonazis aus dem Unterstützer*innenumfeld. Ferner diente (und dient) das Bundesland als Sprungbrett zu aktiven Neonazis in Skandinavien. Ein parlamentarischer Untersuchungsausschuss zur näheren Beleuchtung von Unterstützer*innennetzwerken ist nicht vorgesehen.

Niedersachsen:
Mehrere Spuren des NSU und ihrer Unterstützer*innen führen nach Niedersachsen.
Im Juli 2019 hatten Die Grünen im Niedersächsischen Landtag 104 Fragen an die Landesregierung über die Umsetzung der Handlungsvorschläge des NSU-Untersuchungsausschusses des Bundestages und der Länder und Erkenntnisstand über mögliche Verbindungen des NSU nach Niedersachsen gestellt. Ein parlamentarischer Untersuchungsausschuss wurde bislang noch nicht eingesetzt.

Rheinland-Pfalz
Es gab Kontakte zwischen dem NSU und Neonazis aus Rheinland Pfalz, auch wurden wohl potentielle Tatorte ausgespäht. Ein PAU ist nicht vorgesehen.

Saarland
Der NSU hatte Feindeslisten angelegt („10000erListe“) mit potentiellen Anschlagszielen / Opfern quer durch die gesamte Bundesrepublik. 86 dieser Adressen finden sich im Saarland. Das zynische Bekennervideo hatte Beate Tschäpe auch an eine saarländische Moschee geschickt. Es ist kaum vorstellbar, dass ein „Trio“ 86 potentielle Ziele im Alleingang ausspioniert hat. Auch im Saaland gilt es, Netzwerke aufzudecken. Ein PAU ist nicht geplant.

Was können wir tun?

Der öffentliche Druck auf die Politiker*innen und Ermittler*innen darf nicht nachlassen. Erst wenn die versprochene rückhaltlose Aufklärung erreicht wurde und dahinter stehende neonazistische Netzwerke aufgedeckt und zerschlagen wurden, können wir uns zufrieden geben.
Fordert weitere Untersuchungsausschüsse bei Euren Landtagen ein.

Fordert ein, dass ungeklärte Morde und Anschläge an und auf Menschen mit Migrationshintergrund auch vor dem Hintergrund des NSU-Netzwerkes neu ermittelt werden.

Begleitet diese Untersuchungsausschüsse kritisch und unterstützt Initiativen wie NSU-Watch, „Keupstrasse ist überall“ und „Initiative für die Aufklärung des Mordes an Süleyman Tasköprü“, die diese Untersuchungsausschüsse und auch den NSU-Prozess, sowie weitere Prozesse gegen neonazistische Netzwerke seit Jahren beobachten und hierüber kritisch berichten. Folgt Ihnen in den sozialen Medien, abonniert ihren Podcast und wenn möglich kann auch eine Spende die weitere Arbeit ermöglichen. Ihr kürzlich beim Verbrecherverlag erschienenes Buch „NSU Watch: Aufklären und Einmischen“ kann in der Buchhandlung eures Vertrauens erworben werden.

An den Sitzungen kann in der Regel nach Voranmeldung teilgenommen werden (auch ohne Presseausweis). Zitat NSU-Watch:
„Wer noch nie bei einem parlamentarischen Untersuchungsausschuss (PUA) war, dem/der/* sei empfohlen, sich das allein des Prozedere wegen einmal anzuhören. Im Falle NSU kommen zwar nur wenige neue Fakten ans Tageslicht, jedoch schaffen es die geladenen Zeugen immer wieder, durch ihre komplette Kooperationsverweigerung, ihr bürokratisches Dilettantentum oder eine erschütternde Gleichgültigkeit negativ zu beeindrucken.“

Bei dem ganzen Gerede über Täter*innen und unfähige oder unwillige Ermittlungen sowie deren Aufarbeitung, wollen wir die ermordeten Menschen nicht vergessen. Niemals vergessen werden:

Enver Şimşek
Abdurrahim Özüdoğru
Süleyman Taşköprü
Habil Kılıç
Mehmet Turgut
İsmail Yaşar
Theodoros Boulgarides
Mehmet Kubaşık
Halit Yozgat
Michèle Kiesewetter

Ihnen und ihren Angehörigen sowie den Überlebenden des NSU-Terrors gilt unsere Solidarität!

Kein Schlussstrich! ALERTA!

Quellen:
Pressekonferenz des Abschlussberichtes des 1. NSU Untersuchungsausschuss Bundestag am 22.08.2013:

www.nsu-watch.info

Podcastfolge 41: https://www.nsu-watch.info/podcast/nsu-watch-aufklaeren-einmischen-41-nsu-untersuchungsausschuesse-in-mecklenburg-vorpommern-bayern-hamburg-und-hessen-der-aktuelle-stand-und-die-forderungen/

Podcastfolge 28: https://www.nsu-watch.info/podcast/nsu-watch-aufklaeren-einmischen-28-bayern-und-der-nsu-komplex-und-prozessbeoachtung-die-oss-prozesse-in-sachsen/

Podcastfolge 25: NSU-Watch: Aufklären & Einmischen #25: Der Mord an Mehmet Turgut – Mecklenburg-Vorpommern und der NSU-Komplex

Podcastfolge 6: NSU-Watch: Aufklären & Einmischen #6 – Der NSU-Prozess und die Hamburger “Initiative für die Aufklärung des Mordes an Süleyman Taşköprü”

www.nsu-watch.info/bundestag/

www.nsu-watch.info/category/untersuchun…/

www.der-rechte-rand.de/archive/3668/vs-…/

www.bundestag.de/dokumente/textarchiv/2…

www.bundestag.de/dokumente/textarchiv/2…

de.wikipedia.org/wiki/NSU-Untersuchungs…üsse

www.lotta-magazin.de/ausgabe/78/wessen-…

Güleç, Ayşe/Schaffer, Johanna (2017): Empathie, Ignoranz und migrantisch situiertes Wissen. In: Karakayali, Juliane/Kahveci, Çagri/Liebscher, Doris/Melchers, Carl (Hrsg.), Den NSU-Komplex analysieren: aktuelle Perspektiven aus der Wissenschaft. Bielefeld: Transcript, 57–80
Reihe “Blickpunkt Hessen” I: Abgründe in Kassel – Nazi-Szene mit mörderischer Dynamik

Reihe “Blickpunkt Hessen” II: Wessen Wissen zählt? – Rechter Terror und das (fehlende) Sprechen über Rassismus

Exif Recherche: Nicht verfolgte Spuren im Mordfall Halit Yozgat – Verbindungen zwischen dem NSU-Mord & dem Mord an Walter Lübcke

www.landtag-niedersachsen.de/Drucksache…

Initiative zur Aufklärung des Mordes an Süleyman Taşköprü

Initiative Keupstrasse ist überall